Axiome zur Deeskalation mit KODIAK


Axiom 1:    Maximal mögliche Gewaltfreiheit

Neben dem Leitfaden 371 zur Eigensicherung, der Polizeidienstvorschrift 100, den Leitbildern vieler Polizeiorganisationen sowie dem Ziel der bürgerorientierten Polizeiarbeit gebieten die Ethik, die Menschenrechte und eine moderne Zivilisation, dass Konflikte immer gewaltfrei zu lösen sind, wenn dies möglich ist. Dies meint, dass auch erhöhte Anstrengungen und Risiken zu ertragen sind, um eine Gewaltanwendung zu verhindern. Es beinhaltet aber auch die Ausnahme, dass nicht alle Konflikte gewaltfrei geregelt werden können. Dies wird nicht ignoriert, sondern fließt sogar in Axiom 2 ein, denn dieses umfasst auch die Vermeidung des Einsatzes von Gewalt gegen Polizeibeamte. Maximal meint dabei, was maximal möglich ist, und darf nicht mit absoluter Gewaltfreiheit verwechselt werden, bei der keinerlei Gewalt eingesetzt wird. Eine gewaltfreie bzw. gewaltarme, kommunikative Lösung eines Konfliktes ist auch unter Akzeptanz eines Mehraufwandes anzustreben, und es ist nur dann Gewalt anzuwenden, wenn sie sich trotz massiver Anstrengung nicht vermeiden lässt. Die Kompetenz und das Recht zur Gewaltausübung der Polizei bleibt dabei bestehen und wird als notwendiger Teil der Polizei angesehen und ist Voraussetzung für ein Deeskalieren aus einer Position der Stärke heraus (siehe Axiom 2).



Axiom 2:    Eigensicherung als Basis polizeilicher Deeskalation

Ein wesentliches Missverständnis der polizeilichen Deeskalation ist die Verwechslung von Deeskalation mit Schwäche. Deeskalation heißt nicht Erdulden von Übergriffen und Präsentieren von Chancen und Gelegenheiten zu einem Angriff auf die Polizeibeamt*innen. Vielmehr setzt das Deeskalieren Eigensicherung voraus: Ohne ein akzeptables Maß an Sicherheit kann keine Deeskalation stattfinden, denn das Axiom 1 der maximalen Gewaltfreiheit gilt für beide Seiten der Interaktion in polizeilichen Alltagseinsätzen. Damit Deeskalation aus einer Position der Stärke möglich ist, muss ein gewisses Maß an Sicherheit für die eingesetzten Polizist*innen herrschen. Todak und White (2019) sehen in diesem Sinne in einem Deeskalationstraining, welches den Gewalteinsatz durch die Polizei reduziert und gleichzeitig Polizeibeamt*innen sowie Bürger*innen keiner höheren Gefahr aussetzt, einen sehr bedeutsamen Schritt in die Zukunft der Polizei. 



Axiom 3:    Deeskalation als stetiger Teil polizeilicher Interaktion

Analog und in Erweiterung zum ersten Axiom von Watzlawick et al. (2011) „man kann nicht nicht-kommunizieren“ wird postuliert, dass polizeiliche Interaktion stets auch mit Eskalation und Deeskalation verbunden ist. Es gibt demnach kein kommunikatives Handeln eines/einer Polizeibeamt*in, dass nicht gleichzeitig auch den Konfliktverlauf beeinflusst. Da eine gewaltfreie Konfliktlösung angestrebt werden soll, sollte polizeiliche Kommunikation in konflikthaften Situationen stets deeskalierend ausgerichtet sein. Man kann also in einer polizeilichen Interaktion nicht erst nach einiger Zeit mit Deeskalation anfangen, sondern diese hat mit der Kontaktaufnahme einzusetzen.



Axiom 4:    Zielgerichtetheit polizeilichen Handelns 

Polizeibeamt*innen sollten stets mit einem polizeilichen Ziel agieren (und nicht ausgerichtet auf persönliche Ziele). Ihr Verhalten ist nicht zufällig und spontan, sondern sie organisieren ihr Handeln stets so, dass ein polizeiliches Ziel verfolgt und auch er-reicht wird. Dabei existieren auf dem Weg zum polizeilichen Einsatzziel Zwischenziele (=Zielsystem oder Zielhierarchie). 



Axiom 5:    Polizeiliche Handlungsverantwortung

Polizeibeamt*innen werden häufig als Konfliktprofis angesehen. Dies gilt nicht nur für ihre Kompetenz, sondern auch für ihre Verantwortung. Als die Berufsgruppe, welche genau für entsprechende Konflikte und Situationen installiert ist, sind sie verantwortlich für den Verlauf. Dies meint nicht, dass sie am Aus-gang eines solchen Einsatzes Schuld haben (=verantwortlich), sondern für sie die Pflicht besteht, verantwortungsvoll zu handeln und die Lage so zu steuern, dass sie möglichst gewaltfrei gelöst wird. Dies beinhaltet, dass sie nicht allein auf das Handeln ihres Gegenübers reagieren und im Sinne des 3. Axioms von Watzlawick (Kommunikation ist immer Ursache und Wirkung; Watzlawick et al., 2011) die Ursache des eigenen Handelns im Handeln des Gegenübers sehen und sich so rechtfertigen. Viel-mehr sollen sie versuchen, die Situation aktiv zu steuern und wiederholt ein Verhalten zeigen, welches das Gegenüber als An-lass nehmen kann, einzulenken. Dies meint im Sinne der Spieltheorie, nicht reaktiv auf der Strategie des kompetitiven Spielens zu beharren, sondern immer wieder initial eine kooperative Spielvariante zu versuchen, auch wenn dies bereits zuvor gescheitert ist. Ebenso sollen Polizeibeamt*innen versuchen, die Rationalität zu bewahren und Verantwortung für das Gegenüber zu übernehmen, um auch dieses im Rahmen des Möglichen zu schützen und ihm zu helfen. Es sind also keine „Auge um Auge“- oder „wie du mir, so ich dir“-Strategien angebracht, sondern viel eher Verzeihen und Vorleistung. Dies stellt die Polizeibeamt*innen nicht als naive Personen dar, sondern als starke Profis, die aus einer Position der Stärke und Macht heraus nachsichtig Konfliktsituationen lösen.



Axiom 6: Verantwortung der Polizeiorganisation

Professionelles polizeiliches Handeln muss erlernt und trainiert werden. Erwartet eine Gesellschaft und in Konsequenz die von ihr dafür eingerichtete Organisation der Polizei, dass Polizeibeamt*innen den oben genannten Axiomen folgen, muss sie auch dafür sorgen, dass die Polizeibeamt*innen über die entsprechen-den Kompetenzen verfügen. Dies bedeutet, dass die Polizeiorganisation u. a. durch Aus- und Fortbildung im Bereich Deeskalation wie auch im Bereich des unmittelbarem Zwanges (körperliche Gewalt, Einsatz von Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt, Einsatz von Waffen) Polizeibeamt*innen qualifiziert und umfassend trainiert. Ebenso ist in Personalauswahl und Ausstattung auf diese Axiome Bezug zu nehmen.


                                             

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